es ist so kultiviert hier
eine humorvolle Glosse
Ein lieber Schulfreund aus dem idyllisch bewaldeten elite-Internat Landheim Schondorf am verschlafenen Ammersee in Bayern zieht bei mir ein. Soweit so gut, wir haben uns gegenseitig sofort kulturell und intellektuell bereichert, zwei tolerante aufgeklärte Menschen der westlichen Hemisphäre des dritten Felsens von der Sonne aus betrachtet. Leider entpuppte sich mein hart arbeitender Mitbewohner als äußerst intolerant in einem anderen Bereich: Lärm. Nach einigen schlaflosen Nächten wurde auch ich von ihm in Kenntnis gesetzt, dass ich seit einigen Jahren an der lauten Schwedterstrasse und der noch lauter und besoffener grölenden Kastanienalle in Berlins Zentrum lebe.
Autorenkasten:
Alles fing damit an, dass ich Single bin; für die Pärchen übersetzt heißt das, ich bin ein 33/M ohne eine Lebensabschnittsgefährtin. Damit ich nicht einsam bin, obwohl ich mein Arbeitsleben am heimischen Schreibtisch verbringe – genau hier, also im Herzen von Berlin – habe ich Mitbewohner. Diese Mitbewohner sind Menschen und reagieren unterschiedlich auf die Großstadt und die von ihr ausgehenden Geräusche. Außerdem veranstalte ich in eben dieser Wohnung den Künstlersalon Berlin – regelmäßig, manchmal auch mit Live Musik und ! Äh! Lärm. Man könnte also, unter Hinzuziehung der Tatsache, dass ich im Studium der Sozialen Verhaltenswissenschaften auch das Fach Mensch und Umwelt studiert habe, behaupten ich sei Profi was Lärm in urbanen Wohnumwelten betrifft. Als Künstler und Schriftsteller ohne Auto sitze ich auch oft am offenen Fenster, um meinen Zeitgenossen aufgeschlossen für alles, zuzuhören wie sie mit ihren Autos durch die Gegend brausen; daraus folgend bin ich auch Profi für Lärm-Toleranz; ein echter Experte also.
Problem – Analyse – Maßnahmen
Mir dieses Problems bewusst werdend ergreife ich einen dreistufigen Notfallplan: 1. Identifikation der Problemursache, Ärzte nennen das auch oft optimistisch eine Diagnose. 2. Entwickeln eines Projektkonzepts mit nachhaltigen Lösungsansätzen (berlinerisch) oder auch Behandlungsplan (Ärzte) 3. Ableitung geeigneter Maßnahmen im Rahmen des Krisenmanagements (mein Mitbewohner droht auszuziehen); beziehungsweise Medikamentierung und Dosierung
Experiment 1
Tatendurstig recherchiere ich! Erstes Experiment: 3 Uhr nachts, Fenster aufreißen und möglichst leise warten, damit meine Untersuchungsergebnisse nicht vom Versuchsleitereffekt (mir) verfälscht / determiniert werden. Das ist schwer, sehr leise versuche ich zu atmen und mich nicht zu bewegen. Ich versuche mich auf das Rauschen der Kastanie im Wind vor mir zu konzentrieren (erstes erhobenes Item). Ich kann nichts hören, weil: ein Motorrad hupt einen LKW an, jemand singt in spanischer Sprache, drei betrunkene Amerikaner vergewaltigen die englische Sprache, ein Junge versucht dasselbe lautstark bei einem Mädchen und jemand zertrümmert eine Glasscheibe in der Ferne. => Hmm, ok, der Baum ist es also nicht, die Autos und Leute hier sind es!
Experiment 2
Zweites Experiment Ich schließe mein Fenster und lege mich in mein Bett. Inzwischen ist es 3:40 Uhr nachts an einem Donnerstag. Wieder versuche ich ganz leise zu sein. Über mir schreit mein lieber Nachbar fröhlich und laut aufgeregt in sein Telefon. Vielleicht hat er sich das angewöhnt, weil die Telefone in der DDR nicht so gut waren, wer weiß das schon, mit diesem Kulturgen Mem bzw. diesem Fachwissen kann ich nicht dienen, jedenfalls ist seine Unterhaltung interessanter als die Volksmusik, die ich immer wieder höre. Ein Baby irgendwo schreit immer noch heiser und das wird auch noch eine Weile ebenso ununterbrochen weitergehen, genau wie das Telefonat.
Eine Wand weiter ist das Treppenhaus und ich denke: Mädchen entscheide dich mal, jetzt geh endlich zu ihm rauf und schlafe mit ihm, das hält ja niemand aus das Gejammer von dem Typen. Den Straßenlärm kann ich nicht mehr hören, weil im Haus gegenüber jemand versucht eine E-Gitarre zu stimmen, oder es ist 12-Ton Musik oder minimalistisch experimentelle elektronische – jedenfalls hört es sich krass an, wird aber nach 10 Minuten unhörbar, denn jetzt kreischt ein Mädchen vor dem Fenster; und sie muss unglaublich nachhaltige Lungen haben. Besorgt gehe ich zum Fenster: Beruhigt stelle ich fest, dass sie nicht nur ausdauernde Lungen und fantastische Stimmbänder hat, sondern auch sehr erfolgreich auf einen jungen Mann im Anzug einschlägt. Zum Glück ist er um ein Konter nicht verlegen. Aber sein Brüllen dringt kaum bis zu mir in das zweite Altbau-Obergeschoss, sehr wohl aber kreischt des Baby und telefoniert der Nachbar, bis ich aus Langeweile friedlich eingeschlafen bin.
Parties waren gestern keine, aber das wäre auch die geringste aller potenziellen Problemquellen gewesen. Es ist Vormittag, in meinem Zimmer hüpft der Lüster (künstliche Decken-Lichtquelle) ca. 2 cm auf und ab. Bam bam bam bam, (der die) das Bobocar (ich habe noch keine Kinder) rast über die Dielen in der Wohnung über mir, PRUM, jetzt hat es die Dielen hinter sich gelassen und fliegt über die Türschwelle. BAAAAAAM wie im Fernsehen landet auch der längste Flug eines Autos auf dem Boden der Tatsachen; in diesem Fall über dem Zimmer meines Mitbewohners. Er wacht auf und in der Küche treffen wir uns, ich teile ihm erfreut mit, dass ich herausgefunden habe, woran es liegt: DIE Großstadt! Er ist wenig begeistert!: „und wie hilft mir das?“
Der super Plan
Ich brauche einen super Plan: wissenschafts-wissenschaftlich betrachtet handelt es sich um „Neues Problem“. Manchmal kann man eine Methode der Wissenschafts-Wissenschaften aus dem einen Wissenschaftsfeld entleihen, um ein Problem einer ganz anderen Wissenschafts-Disziplin zu lösen. Erfahrungswerte: Müll stinkt, wenn ich ihn aufräume/wegräume, behebe ich auch das Problem Gestank. Und eine weitere Erkenntnis: Ordnung ist da wo keine Menschen sind denn: wo Menschen sind, ist Unordnung, denn Menschen machen Ordnung kaputt. Super, nur noch den assoziierten Lösungsansatz übertragen auf das neue Problem, und ZACK Problem gelöst. Toll, ich sollte Unternehmensberater werden und aufhören mit der Pinselei und der Schreiberei.
Die neue Fragestellung lautet: Die Großstadt ist voll von Menschen, die Menschen machen Lärm, wie kann ich sie aufräumen, äh ich meine natürlich die Großstadt wegräumen?; sozusagen den Lärm aufräumen. Bevor viele von den Menschen im heiratsfähigen Alter um mich herum sehr laute Kinder bekommen haben, wurde auch die Polizei, die Ordnungshüter, durchaus mal gerufen als ich einen Künstlersalon mit Live Musik veranstaltete; es ging natürlich um Lärm, wie überraschend. Das scheint also ein weit verbreiteter Lösungsansatz zu sein, das wegräumen. Wenn man also Menschen wegräumen kann, dann sollte vielleicht auch die Großstadt einfach wegräumbar sein, und bei den Autos könnten wir anfangen! Und gleich danach die Menschen, die hier wohnen. Dann sind auch alle Locations (berlinerisch) außen herum ganz still. Das hört sich dann so an: …. Außerdem hätte ich nebst einem dauerhaften Mitbewohner auch persönlich etwas davon: meine Miete würde Miet-Preis-technisch in den Keller fallen – dort war es sowieso schon immer sehr still.
Die Idee war schnell gefasst, der Plan perfekt. Verbleibt noch die Evaluierung, sozusagen die Prüfung des Business Planes oder wie Ärzte die Evaluierung der Diagnose im WorstCase auch nennen: Autopsie! Irgend einen Grund musste es ja geben, warum mein Mitbewohner überhaupt und ausgerechnet hierher gezogen ist, und mich beschleicht der Verdacht, es könnte eventuell etwas mit der Großstadt zu tun haben. Um aber eine Begründung zu formulieren – warum die gefundene Behandlungsmethode der Symptomatik eventuell doch nicht ganz so zweckdienlich sein könnte – musste ich auf mein Studium zurückgreifen.
Entstehung der Kultur
Und das geht so: Alle leben auf dem Land und sind glücklich, so ganz ohne berliner-Beziehungs-Psychosen – einfach, und einfach glücklich; unfassbar! Aber dann, aus 100 Bauern werden 90 Bauern und 10 Werkzeugmacher. Aus 90 Bauern und 10 Werkzeugmachern werden 70 Bauern, 5 Müller, 5 Jäger, 5 Händler, 5 Lederer, 5 Werkzeugmacher und 5 Schmiede. Soweit so gut, die 5 Händler müssen eben viel reisen, um die weiten Distanzen zu Fuß oder mit dem Pferd zurückzulegen; und ebenso die ersten Handwerker um ihre Zunft zu erlernen. Aber wenn das so weiter geht, kommen noch mehr Experten mit Fachwissen hinzu, wie Weber, Schneider, Münzenpräger, Hufschmied, Grobschmied, Waffenschmied, Sänger, Lustmädchen, Wirte, Geldverleiher, Schauspieler, Gelehrte, Soldaten und immer so weiter.
Wenn sich von vielen vielen Bauern viele auf jeweils ein Spezialgebiet konzentriert und das entsprechende Expertenwissen erlernt haben – auch Kulturgut genannt oder auch Meme als Gene der Kultur – dann entsteht vielfältige Kultur. Die Voraussetzung, oder aber die Konsequenz dieses Prozesses heißt Stadtbildung und ist mit dem Ursprung der Kultur, jeglicher Hochkultur, identisch. Ohne Stadt keine höhere Kultur. Urbane Wohnumwelten mit ihren kurzen Wegen sind also Geburtsstätten der Kultur und daher auch Hochburgen der Kultur. Der wirksame Mechanismus ist das marktwirtschaftliche Motiv (Effizienzsteigerung): Dieser wird wirksam über die Moderatoren: Spezialisierung und deren Voraussetzungen: Kurze Kommunikationswege, hohe Dichte (Lehrer -> Schüler) und relativ kurze Transportwege. Erstaunlich, dass die gesellschaftliche Wirtschaftsordnung Kapitalismus auf demselben motivationalen Mechanismus aufbaut, der auch die Kultur hervorgebracht hat. -> Umformuliertes Motiv: Erstaunlich was Menschen zu leisten bereit sind, wenn sie dafür mehr als andere bekommen.
Die Stadt und wie sie Menschen verändert
Aus Erfahrung kann ich nur sagen, die Mädchen im heiratsfähigen Alter finden das ganz große Klasse und lassen sich auch mal gerne auf eine Weißweinschorle einladen, oder einen Tanzabend, oder einen Tanzabend mit Essen, oder einem Tanzabend nach Theater und Essen oder … , nein solche jungen Damen kenne ich doch gar nicht.
Wenn also all die lustigen netten Menschen in die Stadt ziehen, dann lernen sie aus Lärm-subjektiv-technischen-Gründen all das zu hassen, wofür sie hierhergezogen sind; ja so dankbar sind die Menschen. Lärm ist übrigens subjektiv, das heißt, Lärm wird von Person zu Person unterschiedlich wahrgenommen und auch subjektiv anders bewertet. Hiervon hängt ab, als wie störend Lärm empfunden wird. „Nützlicher Lärm wie Rasenmäher“ – hahaha – wird als weniger störend empfunden, als „unnützer Lärm“, der vielleicht auch noch Neid hervorruft, wie zum Beispiel feiernde Menschen. Ich habe keinen und ich hasse Rasenmäher – übrigens. Und ja, nennen Sie mich intolerant, aber wir haben inzwischen etwas erfunden, das heißt elektrischer Strom und fließt von Plus zu Minus, wissenschaftlich betrachtet natürlich andersherum, und aber auch zu Ihrem Rasenmäher. Das ist dann sehr leise, leise ist nicht laut; und ich mag unnützes laut nicht.
Lösung: Kultur-Lärm als nützlich empfinden
Wenn also das Baby neben mir schreit, dann stört es mich 0 (null), weil a) es nicht mein Kind ist und b) Kinder schreien dürfen. Diese Logik lässt sich erstaunlicherweise auf alles erweitern, außer Rasenmäher. Menschen dürfen fröhlich, verzweifelt, entsetzt und glücklich sein und dies auch ihrem sozialen Umfeld mitteilen. In der Großstadt leben sehr sehr sehr verunsichernd viele Menschen, wenn alle ein bisschen Lärm machen, ist das immer noch sehr viel Lärm für alle. Wenn ich also Ruhe will, dann gehe ich aufs Land und ärgere mich über Rasenmäher. Wenn ich aber Kultur und kurze Wege bevorzuge – und ja ich liebe kurze Wege – dann ist es die Großstadt. Und wenn ich auch noch Toleranz will, dann ist es sogar Berlin. Und ja, wer hätte das gedacht, hier gibt es keine Rasenmäher im Epizentrum. Ich gehe auf dem Land nur bei schönem Wetter ins Grüne und die Verbrennungsmotor-Rasenmäher tackern immer nur bei schönem Wetter über das Grüne und erfüllen die gute Landluft mit Lärm. Hier in Berlin ist alles sehr kultiviert und angenehm still. Und ich sehne mich schon nach dem nächsten Schreien des Nachbarkindes, denn dann freue ich mich auf das „irgendwann selbst Kinder haben“ und darüber, dass genau dieses – das schreiende – nicht mein Kind ist.
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